ROTER MORGEN, 3. Jg., Juni 1969
Bei der täglichen Agitationsarbeit geschieht es immer wieder, daß das Problem „Trotzki“ erörtert wird. Das wäre an sich schon Grund genug, dem Trotzkismus einige Gedanken zu widmen. Nicht so sehr von seiner historischen Perspektive, als von seiner aktuellen Problematik her. Trotzkismus muß u. a. als Begleiterscheinung des Aufbaus und der Festigung einer marxistisch-leninistischen Organisation erkannt werden, die völlig unabhängig von einem bewußten Bekenntnis zu den Ideen L. Trotzkis auftreten kann. Eben darin besteht auch die Gefahr dieser Abweichung. Sie tritt häufig in Form von „linken“ Phrasen auf, die aber schnell gegen rechte Parolen ausgetauscht werden können.
Diese scheinbar unvereinbaren Widersprüche in den Erscheinungsformen des Trotzkismus, hier „linker“ Radikalismus dort Rechtsopportunismus, lösen sich erst auf, wenn man seine klassenmäßige Herkunft kennt. Das Schwanken in den Positionen weist auf die Herkunft auf jenen Teil der Gesellschaft hin, der infolge seiner Zwischenstellung zum wechselnden Paktieren mit dem jeweils Stärkeren neigt: Dem Kleinbürgertum (so gibt es Untersuchungen, nach denen zur Zeit der größten Machtentfaltung der französischen Arbeiterklasse im Mai 68 sich ca. 70 % des Kleinbürgertums von de Gaulle abgewandt hatten. Als aber infolge des Verrats durch die KPF der Kampf der Arbeiter und Studenten abflaute, strömte es dem wieder die Zügel fest in der Hand haltenden de Gaulle zu).
Infolge seiner von zwei Seiten bedrohten Stellung ist die ständige Wankelmütigkeit gerade die Verhaltensweise, die dem Kleinbürgertum sein Überleben garantieren soll: Scheint ihm das Großbürgertum stärker als die Arbeiterklasse, neigt es zu rechten Parolen, hält es die Arbeiterklasse für mächtiger, zu linken. In jedem Fall fühlt es sich allein nicht stark genug und ist weitgehend demoralisiert. Typisch ist sein ständiges Schielen nach rechts und links. Jede zeitweilige Änderung der Verhältnisse im Klassenkampf führt zu einer Umorientierung.
Hier kann Trotzkis Verhalten Anfang der 20er Jahre als Beispiel gelten: Auf dem Höhepunkt des Siegesbewußtseins der jungen Sowjetunion befürwortete er eine abenteuerliche, den Bestand des Staates aufs Spiel setzende Außenpolitik. Nachdem aber die Kämpfe der Arbeiter Westeuropas nicht zum Sieg geführt hatten, verfiel er in genau das andere Extrem: Jetzt wollte er die sowjetische Wirtschaft durch das ausländische Großkapital aufbauen und abhängig machen lassen und gefährdete hiermit ebenfalls den Bestand des ersten sozialistischen Staates. Interessant ist auch sein Verhalten nach der niedergeschlagenen Revolution von 1905. Jetzt, wo es darum ging, die Erfahrungen der Kämpfe auszuwerten und eine kampftüchtige Partei aufzubauen, zog Trotzki sich fast völlig ins Privatleben zurück, ein Anzeichen dafür, daß er die objektive Natur des Klassenkampfes nicht sah oder nicht sehen wollte. Nur wenn dieser sich in seinem allerhöchsten, dem bewaffneten Kampf befand, konnte Trotzki die Stärke und Kampfkraft des Proletariats erkennen.
Dieses Verhalten braucht natürlich seine ideologische Rechtfertigung. Sie ist identisch mit der menschewistischen Linie, die ja auf dem Parteikongreß im Jahre 1903 auch von Trotzki vertreten wurde. Dazu gehören liberale Auffassungen über die Anforderungen an Parteimitglieder, Spontanitätstheorie und Ökonomismus. Der Spontanitätsgedanken gesteht in letzter Konsequenz nur dem gänzlich ungeschulten Proletarier das Recht zur Initiative zu, denn wer die Schulung im Marxismus-Leninismus erfahren hat, handelt ja bereits nicht mehr spontan, sondern plant bewußt voraus und sieht über die unmittelbaren Bedürfnisse hinaus. (Das heißt über die Probleme am Arbeitsplatz und mit dem Hauswirt). Denn planen, das widerspräche ja der kleinbürgerlichen Zaghaftigkeit, die darauf angewiesen ist, daß andere für sie die revolutionäre Initiative ergreifen. Wenn erst die Proletarier ohne entwickeltes Bewußtsein „spontan“ den Kampf beginnen, dann ist es ja wohl auch günstiger für den Kleinbürger, sich auf die Seite des Proletariats zu stellen, denn dann hat man ja wohl die Gewähr, daß auch jeder Proletarier zum Kampf bereit ist. Und damit es auch ganz sicher ist, soll sich jeder Sympathisierende und Mitdemonstrant als Mitglied der Partei bezeichnen dürfen, denn sonst bestünde sie ja aus geschulten Mitgliedern und die sind ja nicht in der Lage, ungeplant „spontan“ zu handeln, weil sie sich etwas bei ihren Handlungen denken.
Damit ist dieser Aspekt des Trotzkismus als Schmarotzer an der marxistisch-leninistischen Bewegung entlarvt. Wichtig ist es, denjenigen Genossen, die noch Elemente des Trotzkismus in sich tragen, seine Herkunft und damit seinen Klassencharakter klarzumachen, der auf Grund seiner schillernden Erscheinungsform leicht verborgen bleibt.
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